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Auf dem Jüdischen Kulturweg mit Lydia Spuler

(Artikel von Eva Meienberg in Horizonte)

  • Lydia Spuler bietet Führungen auf dem jüdischen Kulturweg in Endingen an. Sie ist mit den jüdischen Spuren in der Nachbarschaft aufgewachsen. Als Katholikin engagiert sie sich für das jüdisch-christliche Zusammenleben

 

Lydia Spuler nimmt den grossen Schlüssel aus ihrem Rucksack und hält ihn in die Luft, damit alle den Schlüsselbart sehen können. «Er hat die Form einer Fünf. Die Zahl symbolisiert die fünf Bücher Mose der Tora», erklärt sie den Teilnehmenden. Wir sind auf einer Führung auf dem jüdischen Kulturweg in Endingen. Dann öffnet sie die mittlere der drei Türen zur Synagoge, die traditionell für die Männer bestimmt ist. Links und rechts gelangen die Frauen in die Synagoge und suchen sich ihren Platz auf der Empore.

Eine Frage des Respekts

Bevor alle Besuchenden durch das Hauptportal eintreten, überreicht Lydia Spuler den Männern eine Kippa, die jüdische Kopfbedeckung für Männer. Sie zu tragen, sei eine Frage des Respekts. Im Vorraum der Synagoge hat es links und rechts je einen Wandbrunnen für die rituelle Waschung der Hände. Das Wasser kommt jedoch nicht aus einer Leitung, sondern wird vom Schames mit der Giesskanne eingefüllt.

Lydia Spuler in der Synagoge in Endingen | Foto: Eva Meienberg

Den Schames-Dienst hat Lydia Spuler während rund zehn Jahren verrichtet, als sie im Haus vis-à-vis der Synagoge lebte. Der Schames – in der Regel war dies ein nichtjüdischer Mann – arbeitet am Schabbat und richtet die Synagoge für den Gottesdienst her. «Arbeiten am Schabbat ist den jüdischgläubigen Menschen nicht erlaubt», erklärt Lydia Spuler. Dazu gehöre das Auffüllen des Wandbrunnens genauso wie das Öffnen der Türen. Als Lohn habe der Schames einmal im Jahr die Tauben im Dachstock der Synagoge jagen dürfen, erzählt sie mit einem Augenzwinkern.

Lydia Spuler leitet die Schule in Mandach, ist SP-Politikerin und engagiert sich im Vorstand des Frauenbundes Unterendingen. Führungen auf dem jüdischen Kulturweg macht sie seit 2020. Ihre Erklärungen sind interessant und zeugen von einem grossen Verständnis für die Perspektive jüdischer Menschen. «Ich bin in Endingen mit seinen Spuren jüdischen Lebens aufgewachsen. Ausserdem war der Ehemann meiner Freundin jüdisch.»

Jüdischer Kulturweg

Eröffnet wurde der jüdische Kulturweg 2009 in Anwesenheit von alt Bundesrätin Ruth Dreifuss. Sie ist Bürgerin der Surbtaler Gemeinde Endingen. Die Idee für den Kulturweg ist älter und stammt vom Publizisten Roy Oppenheim, der sich Anfang der 70er-Jahre in Lengnau niederliess und sich besonders für die jüdische Geschichte der beiden Dörfer Endingen und Lengnau interessierte. Denn sie waren die einzigen Dörfer in der Schweiz, in denen sich jüdische Menschen ab 1776 bis Mitte des 19. Jahrhunderts niederlassen durften.

«Möge die unrühmliche Vergangenheit ein für alle Mal hinter uns liegen aber dennoch nicht vergessen werden», sagte der damalige Landamman Urs Hofmann an der Eröffnungsfeier des jüdischen Kulturwegs. Nicht der Menschenfreundlichkeit der Surbtaler Bevölkerung, sondern der Gewinnsucht der Badener Landvögte ist es geschuldet, dass sich die Dörfer zum jüdischen Zentrum in der Eidgenossenschaft entwickelten.

Schild in Endingen | Foto: Eva Meienberg

Als im 15. Jahrhundert das Zinsverbot für die Christen gelockert wurde, vertrieben sie die jüdische Bevölkerung aus den Städten. Geduldet waren sie zuvor wegen der Zinsgeschäfte, die man ihnen aufgedrängt hatte. In Baden machten die Landvögte aus der Not der Vertriebenen ein Geschäft und verkauften ihnen alle 16 Jahre einen teuren Schutzbrief. Und die Bevölkerung wurde gezwungen, den jüdischen Familien Wohnraum zu vermieten.

Endingen zwischen zwei Handelsorten gelegen

Mit eineinhalb Stunden Gehzeit nach Zurzach und zwei Stunden nach Baden waren Endingen und Lengnau gut gelegen für die jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner. Die Bäderstadt Baden und die Messestadt Zurzach waren wichtige Handelsorte und damit attraktiv für die handeltreibenden Juden. Da jüdische Menschen den Status «fremde Schutzgenossen» hatten, waren sie in ihren Rechten stark eingeschränkt. Sie durften kein Handwerk ausüben, keinen Boden besitzen, keine Bauern sein. Es blieb ihnen der Handel. Die Surbtaler Juden handelten vor allem mit Tüchern, Bändeln, Fellen und Häuten, die vermögenderen Händler mit Pferden und Vieh.

Nicht einmal die neu geschaffene Bundesverfassung der Schweiz im Jahr 1848 verbesserte die Situation der jüdischen Bevölkerung, obwohl die Verfassung auf Werte abstützte wie die Gleichheit aller Bürger. Als es für die Schweiz schwierig wurde, Handelsverträge mit Frankreich und den USA abzuschliessen, kam es 1866 zur Volksabstimmung über die Teilrevision der Bundesverfassung, welche die Niederlassungsfreiheit der Jüdinnen und Juden garantierte. Die Umsetzung im Kanton Aargau liess allerdings noch bis 1879 auf sich warten.

Auszug der jüdischen Bevölkerung

1850 lebten in Endingen 990 jüdische Personen. Sie stellten die Hälfte der Bevölkerung. In Lengnau lebten 550 Jüdinnen und Juden, die einen Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachten. Als sich die Jüdinnen und Juden in der Schweiz frei bewegen konnten, zogen sie bald aus den Surbtaler Dörfern weg. Und dies, obwohl sie 1852 eine neue Synagoge und ein neues Schulhaus gebaut hatten.

Lydia Spuler steht vor dem Almemor, von dem aus in den Gottesdiensten aus den Thorarollen vorgelesen wird, die sich in der Apsis der Synagoge befinden. Allerdings fänden heute nicht mehr viele Gottesdienste statt. Denn der Minjan könne durch die Einwohner von Lengnau und Endingen nicht mehr eingehalten werden. Der Minjan bezeichnet die Zehneranzahl von mündigen männlichen Juden, die es braucht, um einen Gottesdienst zu feiern. Regelmässig gefeiert wird im jüdischen Altersheim Margoa in Lengnau, das sich ebenfalls auf dem jüdischen Kulturweg befindet. 1903 traf eine grosse Spende aus den USA in Lengnau ein, mit der das Altersheim gebaut wurde. Absender waren die Copper-Guggenheims, die zu grossem Reichtum gekommen waren und heute unter anderem berühmt sind für die nach ihnen benannten Kunstmuseen etwa in New York, Venedig oder Bilbao. Sie sind Nachfahren der Familie Meyer-Guggenheim aus Lengnau, die 1848 nach Amerika ausgewandert sind.

Jüdische Schule, Mikwe, Schlachthaus und Friedhof

Lydia Spuler führt ihre Gruppe weiter zum jüdischen Schulhaus, das aus Platzgründen gebaut wurde. Jüdische Buben gingen in Endingen zur Schule, bevor im Kanton Aargau 1835 die Schulpflicht eingeführt wurde. Heute dient das Gebäude der Gemeindeverwaltung. Die Mikwe – ein rituelles Tauchbad –, die sich in einem kleinen Jugendstilhaus neben der Surb befindet, ist die nächste Station. Die Mikwe wurde von Frauen und Männern genutzt. Die Frauen mussten sich nach der Menstruation reinigen, bevor sie mit ihrem Mann wieder Geschlechtsverkehr haben durften. Männer und Frauen reinigten sich vor grossen Festtagen.

Auf dem jüdischen Friedhof herrscht ewige Grabesruhe. | Foto: Eva Meienberg

Das Schlachthaus am Waldrand ist auch heute noch in Betrieb. Allerdings wird es vom Dorfmetzger genutzt. Zu Zeiten als es in jüdischer Hand war, wurde dort geschächtet bis zum Verbot, das mit der ersten Volksinitiative der Schweiz erwirkt wurde. «Die Gesinnung, aus der die Volksinitiative entstand, war wohl eine Mischung aus Antisemitismus und Tierschutz», sagt Lydia Spuler. Bis heute werde in der Schweiz koscheres Fleisch vor allem aus Frankreich importiert.

Auf dem Friedhof hält Lydia Spuler die Männer an, die Kippa noch einmal aufzusetzen. Der Ort ist normalerweise nicht öffentlich zugänglich. Auch klettern geht nicht, denn über den Mauern ist Stacheldraht gespannt. «Aus Sicherheitsgründen», sagt Lydia Spuler. Aus diesem Grund habe es auch keine Wegweiser, die auf die jüdischen Bauten hinweisen. Zum Glück habe es seit längerer Zeit keinen Vandalismus mehr gegeben.

Ewige Grabesruhe

Die Erdbestattung, die 24 Stunden nach dem Eintreten des Todes erfolgen müsse, ist in den orthodoxen jüdischen Traditionen Männersache. In einfachen Holzsärgen, den Oberkörper leicht erhöht, mit Blick nach Jerusalem, werden Jüdinnen und Juden bestattet. Der Friedhof Endingen-Lengnau allerdings ist Nord-Süd ausgerichtet. Der Grund dafür ist unbekannt. Er ist der älteste jüdische Friedhof in der Schweiz und beherbergt rund 2700 Gräber, die nicht ausgehoben werden. Denn im Judentum herrscht ewige Grabesruhe.

Eine Doppeltüre eines Hauses in Endingen, das in früheren Zeiten von jüdischen und christlichen Menschen bewohnt wurde. | Foto: Eva Meienberg

Die Führung neigt sich dem Ende zu. Die Zeiger der Uhr an der Fassade der Synagoge zeigen bald 18 Uhr. Übrigens seien die Uhr und das Schlagwerk ungewöhnlich für eine Synagoge, sagt Lydia Spuler. Beim Bau der Synagoge seien sie eine Auflage der Gemeinde gewesen. Weil in Endingen die christliche Kirche mit Uhr fehlte, musste die Synagoge diese Aufgabe übernehmen. In Endingen gibt es noch andere Spuren des christlichen und jüdischen Nebeneinanders: die Doppeltüren der Häuser, die von jüdischen und christlichen Menschen bewohnt wurden. So lösten die Nachbarn das Problem, dass sie eigentlich nicht das gleiche Haus bewohnen durften.

Doppeltür heisst auch der Verein, der die jüdisch-christliche Geschichte des Zusammenlebens im Surbtal einem breiten Publikum zugänglich machen will. Geplant ist ein Begegnungszentrum in Lengnau in einem ehemaligen jüdischen Krämerladen, der sich in einem Doppeltürhaus befindet. 

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Bildquellen

Roy Oppenheim, Archiv für Zeitgeschichte, Jürg Schönenberger, Susanne Holthuizen, IRAS COTIS (Karim Fawaz), Wiki Commons, Museum Aargau, Beat Heuberger, Swissair.